28.06.2024

Architektur

„Wir versuchen immer mehr, auch das Licht miteinzubauen.”

Ulrike Schartner und Alexander Hagner von gaupenraub+/- Credit: Markus Kubicek
Ulrike Schartner und Alexander Hagner von gaupenraub+/- Credit: Markus Kubicek

gaupenraub+/- ist eine etablierte Größe in der Architektur und besonders durch ihre sozialen Projekte für die Vinzenzgemeinschaften medienpräsent. Mit dem Baumeister sprachen Ulrike Schartner und Alexander Hagner über menschenzentriertes Planen und die Architektur als Prozess, dem scheinbare Einschränkungen nichts anhaben werden.

Baumeister: Starten wir doch damit, dass ihr erklärt, was es mit eurem Namen auf sich hat.

Ulrike Schartner: Der Name gaupenraub kommt von den Dachgaupen, die wir rauben wollen, und ist eigentlich einer Bauherrrin zu verdanken. Bei uns in den späten 90er-Jahren waren die ersten Bauaufgaben direkt nach dem Studium typischerweise Wiener Dachbodenausbauten. In unserem ersten Projekt wollten wir der Bauherrin diese ganzen Dachgaupen entfernen und durch eine großzügige Lösung ersetzen. Sie meinte, man könne ihr doch nicht die Gaupen rauben.

Aber in der weiteren Bedeutung steht es für Komplexität. Eine Dachgaupe ist etwas Additives, etwas Draufgesetztes. Wir versuchen von Anfang an, komplexeren Lösungen zu entwickeln, anstatt mehr Oberfläche, mehr Kältebrücken zu schaffen. Wir feiern heuer unser fünfundzwanzigjähriges Jubiläum, also wir können sagen, dass das gut funktioniert.

Alexander Hagner: Bei gaupenraub war eigentlich klar, dass wir Leute, die irgendwelche Erkerchen oder Dorische Säulchen an ihrem Objekt wollen, damit ein Stück weit abstoßen. Es war ein Signal. Mit unseren eigenen Namen konnten wir einfach nichts anfangen und wir wollten nicht, dass sich jene, die mit uns arbeiten, mit uns identifizieren müssen.

B: Wer sind diese anderen, mit denen ihr zusammenarbeitet?

US: Das variiert, aber wir arbeiten natürlich viel mit unseren Bauherr:innen zusammen. Das klingt jetzt ein bisschen merkwürdig, aber wir entwickeln vor allem in den Sozialprojekten die Raumprogramme und anderes mit jenen gemeinsam, die schon vor Ort sind.

AH: Zu wenig mit Bauherr:innen! Zwar immer mehr, aber in Summe doch weniger als wir es uns vorgestellt hatten, auch mit anderen Playern in Sachen Raumproduktion. Da hätten wir uns gerne mehr gewünscht. Das ist erst langsam im Kommen. Ich habe das Gefühl, dass Architekt:innen alleine irgendwas planen, gehört der Vergangenheit an. Das war uns damals bereits wichtig, mit anderen gemeinsam interdisziplinär an Projekten zu arbeiten. Diese Offenheit sollte das +/- suggerieren.


Koexistenzen

Am Anfang waren es irgendwann mal die Tragwerksplaner:innen, dann kamen die Haustechniker:innen, Bauphysiker:innen dazu und heute sind wir überzeugt, dass wir auch immer mehr Soziolog:innen brauchen, wenn wir bauen wollen. Wenn alle über unsere Umwelt reden, ist Architektur schließlich auch ein Teil davon. Als Professor an der FH Kärnten bearbeite ich die Auswirkungen des Anthropozäns. Das müsste doch schon längst over sein und wir sollten uns mehr drauf besinnen, dass wir in Koexistenzen leben.

Das bezog sich bisher primär auf Randgruppen. Aber gerade an der Hochschule kommen wir immer mehr drauf, dass Koexistenz eigentlich meinen muss: alles, was da ist an Lebendem, vor allem Tiere, Pflanzen, einfach alles, was in der Planung noch immer zu wenig Berücksichtigung findet. Weil für die tut die Architektur einfach zu wenig. Aber die Architektur muss auch weg von dieser Menschenzentriertheit. Wir sehen das immer mehr und arbeiten auch mit unserem Büro und an der Hochschule daran, den Fokus irgend möglich zu erweitern.


Ein Riesenfeld

B: Wie kam es, dass ihr euch im Sozialbau engagiert?

AH: Wir haben relativ früh, ungefähr vor 20 Jahren, festgestellt, dass wir Skills haben, die andere sehr dringend brauchen können. In der Zeitung habe ich von Pfarrer Pucher gelesen, der in Wien ein Dorf machen wollte, das es in Graz damals bereits seit neun Jahren gab und gut funktioniert hat: das VinziDorf für obdachlose Menschen. Ich habe Ulrike gefragt, ob wir das, zumindest vorerst, ehrenamtlich unterstützen wollen. Ich habe mich dann einfach bei ihm gemeldet und gefragt, ob er uns als Architekturbüro brauchen könnte. Er hat gemeint, er braucht alle und und seither sind wir dabei und mehr denn je zum Glück — und leider zum Glück, denn es ist ein Riesenfeld und wird immer größer.

Leider ist die Arbeit immer noch prekär, wenn es um Sozialprojekte geht, also Projekte für Menschen außerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Es gibt die Attitüde, man solle weniger in so etwas investieren und die sollen doch froh sein, dass sie irgendetwas kriegen. Aber genau so funktioniert es nicht und deswegen funktionieren so viele Sozialprojekte so schlecht, weil auch in der Architekturproduktion nicht die Menschen im Fokus stehen, für die man etwas tut, sondern der Mangel, wie zum Beispiel das Fehlen von Geld oder Grundstücken.


Vom Hasten kommt das betonierte Stigma.

Dabei reden wir bei Architektur, wenn sie halbwegs OK ist, von zehn, fünfzehn, dreißig Jahren Bestandszeit, und wenn sie gut ist von über 100, 200 Jahren. Wenn wir da Fehler machen, dann betonieren wir das Stigma, quasi diese Situation der Benachteiligung, also für lange Zeit ein. Das haben wir von Anfang an anders gesehen im Sinne von: Wenn es um Menschen geht mit irgendwelchen schweren Biografien, Menschen auf der Flucht, Menschen mit Behinderung oder Einschränkung oder die wohnungslos sind, da müssen wir mehr leisten, weil es ja ein bereits bestehendes Defizit erst auszugleichen gilt. Ich glaube, aufgrund dieser Herangehensweise und unserer Ideen, die wir auch immer wieder realisieren konnten im Laufe der 25 Jahre, haben wir einen speziellen Ruf.

Wir haben radikal mit dem Bild gebrochen Sozialprojekte riechen komisch, sehen komisch aus, fühlen sich arm an, sind irgendwie nicht sexy. Gerade solche Projekte brauchen Anknüpfungspunkte für die Unterstützung, damit Menschen, die benachteiligt sind, in der Gesellschaft wieder Boden unter die Füße kriegen. Da können wir mittels Architektur Brücken bauen zwischen Bereichen, wo viel ist, und jenen, wo nichts ist. Je schöner wir die Architektur konzipieren, je besser die Projekte auch von Hardware-Seite aufgesetzt sind, desto leichter fällt es, Unterstützung aus unterschiedlichsten Bereichen zu bekommen; aus der Bauindustrie, aber auch von Privatpersonen.

Wir können mit der Schönheit der Gestaltung Rutschen bauen, damit mehr da hingeht, wo es dringend gebraucht wird. Ich denke, man merkt auch, dass unsere Arbeit eine Riesenfreude für uns ist. Aber gleichzeitig manövrieren wir uns immer ein Stück weit selbst in eine sehr prekäre Lage, weil honoriert wird es zwar wahnsinnig stark, aber nur in der Art der ideellen Wertschätzung und nicht bei den Honoraren. Und es ist schwierig, damit zu überleben.


Es muss nicht immer eine Übergangslösung sein

US: Die EU hat das hehre Ziel, bis 2030 die Obdachlosigkeit quasi zu beenden. Die Richtung zeigt aber eher ins Gegenteil. Durch Klimakrise, Kriege und Co wird es immer mehr obdachlose Menschen geben, die aus ganz anderen Gründen ihre Häuser verlassen müssen und die sehr wohl auch nach Europa kommen werden. Deswegen muss die Architektur verstärkt auf diesem Feld arbeiten. Das Thema wird auch ganz andere Personengruppen erreichen, nicht mehr nur wie früher jene, die vielleicht ihre Arbeit verloren haben oder immer schon sozial ausgestoßen waren.

Es betrifft auch die Jugendlichen, die keine Wohnungen mehr finden, weil alles zu teuer geworden ist. Es geht längst nicht mehr nur um eine kleine Gruppe, sondern um alle Gesellschaftsschichten. Wir können das mit den Mitteln, die wir haben, nicht wegbauen. Aber in Wirklichkeit kann man auch nicht behaupten, dass in Österreich oder in Wien nichts für sozialen Wohnbau getan wird. Es wird viel getan.


Einen Platz zum Älterwerden

Wir sind dafür, dass es ein breiteres Angebot gibt. Es gibt natürlich die Gemeindewohnungen oder Housing First, aber die Angebote sind oft nicht so breit gefächert und daher nicht passend für die Konsument:innen, also Wohnungssuchende, um diese Angebote auch wirklich annehmen zu können. Es braucht ganz spezifische Projekte. Beispielsweise dieses VinziDorf, wo nur alkoholkranke Männer aufgenommen werden, die nicht mehr integriert werden können in die Gesellschaft. Sie bekommen einen ruhigen Platz zum Älterwerden und zum Sterben.

Normalerweise sagt man, wenn man für benachteiligte Gruppen baut, dann ist es nur eine Übergangslösung, denn sie werden sich aufrappeln, kommen wieder in die Gesellschaft zurück, und dann ist alles okay. Aber wir haben so viele Leute getroffen, für die das nicht nur ein Übergangsstadium ist, sondern wo man ihnen die Möglichkeit geben muss, dort auch bleiben zu können. Wir haben eigentlich keines unserer Projekte für einen kurzen Zeitraum konzipiert. Die Menschen dürfen bleiben, solange sie können und wollen, das hat auch mit einer gewissen Autonomie und Würde zu tun. Es gibt nirgendwo ein Schlussdatum, nach dem man sagt, jetzt musst du dir selber helfen.


Es braucht ein Umdenken

B: Stichwort Unterstützung: Müsste man die Architekt:innen als Souveräne anders denken, nämlich nicht in dieser „freier Markt, Dienstleistungssituation”, sondern sie vielleicht ganz anders positionieren in der Gesellschaft?

US: Eine schwierige Frage. Wir bauen zwar hauptsächlich für private Vereine oder NGOs, aber Unterstützung kommt im großen Maß von Mäzen:innen. Es gibt Philanthrop:innen, die ihr Geld von Familienstiftungen in Sozialprojekte stecken. Zwar soll jede:r Einzelne so viel beitragen, wie er oder sie kann. Aber natürlich muss der Staat auch seinen Teil leisten. Das ist wie eine Art Geflecht. Ich glaube nicht, dass Marktwirtschaft das alleine lösen kann. Es darf nicht so sein wie in Amerika, wo man sich auf andere Leute verlassen muss, die viel Geld spenden. Aber wir müssen zugeben, dass wir zumindest drei unserer Projekte nicht realisieren hätten können, wenn es diese Art von privater Spendentätigkeit nicht gegeben hätte. Ich sehe das sehr divers.

AH: Es dreht sich auch immer wieder ums Wohnen. Du hast vor unserem Gespräch das Postwachstum angesprochen. Uns würde es die Arbeit wahnsinnig erleichtern, wenn das Thema Wohnen dem (turbo-) kapitalistischen System entzogen werden würde, im Sinne von einem Grundrecht auf Wohnen. Man kann das nur leider nirgends einklagen. Eigentlich alle Staaten, besonders in unserem Umfeld, exekutieren das Recht auf Eigentum stärker als das Recht auf Wohnen. Wir sehen anhand von Städten wie Paris oder London ja, wie es sich entwickelt und wo wir hindriften.

Ich denke an Victor Papanek und sein Buch Design for the Real World von 1971. Er fordert, dass man 10% von dem, was man hat, der Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Das meint nicht nur Geld, sondern auch Ideen oder Fähigkeiten. Dieser Gedanke gefällt uns. Wir sind Teil einer Community und ohne sie nicht überlebensfähig. Dieser Idee liegt ja auch unser Steuersystem zugrunde. Für uns ist die Architekturarbeit ein Shortcut zwischen diesem Haben und Soll. Aber ich gebe Ulrike recht: der Staat ist da genauso gefordert, und da braucht es ein Umdenken.


Sanierung als Verknappung von Alternativen

Wir brauchen mehr unterschiedliche Angebote. In Wien und ähnlichen Städten haben wir beispielsweise alle Substandardwohnungen wegsaniert und sind super glücklich drüber. Aber in Wirklichkeit haben wir einfach das Spektrum enorm verkleinert. Dieses Arrival City-Element, in das man als Student:in, als junger Mensch kommt, frisch weggezogen von den Eltern und auf der Suche nach einer Wohnung, ohne Geld, das gibt es so fast nicht mehr. Heutzutage findet man zum Wohnen nichts mehr außer „Same same”-Architektur, nur kleiner und dafür weiter am Rand der Stadt.

Weil ich früher bereit war, ein Klo am Gang mit einer Frau Paul zu teilen, konnte ich im zentralen Bezirk wohnen. Auf die Hebung der Wohnstandards sind wir stolz, aber in Wirklichkeit verunmöglicht das Ankommenden zu entscheiden: Nehme ich lieber das Klo am Gang mit Frau Paul oder ziehe ich irgendwo an den Rand der Stadt in eine superkleine Wohnung?


Mittagessen oder heizen?

Wir wollen experimentieren, wie Wohnformen aussehen können, die dieser zunehmenden Individualität in unserer Gesellschaft Rechnung tragen. Wir sind alle so arge Individuen, aber was den Wohnungsmarkt anbetrifft, gibt es nur ähnliche, kleine Grundrisse. Früher gab es beispielsweise große Wohnungen in zentraler Lage, aber ohne Zentralheizung. Man konnte überlegen, ob ich am Wochenende Kohlen kaufe und den Ofen einheize, oder ob ich ins Kaffeehaus gehe, das Geld nehme und mir davon mal wieder eine gescheite Mahlzeit gönne.

Diese Auswahlszenarien gibt es gar nicht mehr. Dagegen würden Experimente helfen, aber die sind extrem verschrien. „Pilotprojekt” geht noch, da hat man das Gefühl da sitzt jemand am Steuer. Der Staat oder die Stadt sind nicht die richtigen Partner:innen, weil die mit Steuergeld agieren, und Experimente können ja fehlschlagen, genauso wie Pilotprojekte. Das kann man gegenüber der Steuerzahler:innen nicht verantworten. Von daher haben wir uns die ersten Jahre mit öffentlichen Auftraggeber:innen abgearbeitet und sie tatsächlich eher als behindernd für unsere Projekte gesehen.


„Sicher können wir auch scheitern, aber wir müssen irgendetwas machen.”

Es ist ja nicht so, dass in Wien so viele Menschen auf der Straße sind, weil es quantitativ zu wenig Angebot gibt. Es gibt schlicht zu wenige auf die Personen zugeschnittene Angebote. Wir sind überzeugt, dass wir ein breites Spektrum brauchen; für die einen passt Housing First, die anderen brauchen irgendwelche Gruppenwohnprojekte, die können aber nicht aussehen wie Baugruppen, weil da geht es ja doch um andere strukturbedingende Themen.

Bei speziellen Angeboten ist die größte Gefahr, dass sie auch speziell aussehen. Und da versuchen wir, einerseits auf die Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen und gleichzeitig mittels des Aussehens nicht zu stigmatisieren. Bei VinziRast-mittendrin* kommt ja auch kein Mensch auf die Idee, dass es sich hier um ein Sozialprojekt handelt, wo obdachlose Menschen und Flüchtlinge eine wesentliche Rolle spielen. Es ist ein ganz normaler Teil der Stadt.

Mit unseren Tools können wir in Sachen Architektur gegen Marginalisierung ein Exempel statuieren, aber das geht in unserer Erfahrung nur mit Partner:innen, die sich von Richtlinien und Normen freispielen können. Dann kann man sagen, lass uns mal was probieren und Projekte entwickeln für die Zukunft. Denn wie Ulrike bereits gesagt hat: Wir werden immer mehr Menschen. Da nützen keine Mauern und keine Zäune. Darauf müssen wir uns vorbereiten, und wir glauben auch in der Architektur können wir das. Es braucht dazu auch von den Regierenden ein Commitment. Sicher könnten wir auch scheitern, aber wir müssen irgendetwas machen.


Mit Gebautem der Kritik trotzen

Martina Malyar war in Wien die Bezirksvorsteherin im neunten Bezirk, und als wir ihr vom Projekt erzählt haben, Studierende und obdachlose Menschen gemeinsam wohnen und arbeiten zu lassen, hat sie das sofort verstanden. Sie war die erste Politikerin in Wien, die gesagt hat, sie finde das sehr interessant und steht hinter uns. Das haben wir bis zu dem Zeitpunkt, da waren wir schon 10 Jahre aktiv, noch gar nicht erlebt. Das Gegenteil war der Fall: Es wurde versucht, das VinziDorf politisch zu verhindern. VinziRast-mittendrin gibt es jetzt seit elf Jahren, das VinziDorf seit 6 Jahren in Wien. Wenn man die Dinge erst mal baut und Realität werden lässt, ist es möglich, den Kritiker:innen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber das geht leider – noch – nicht mit der Politik. Aber natürlich gibt es Ausnahmen wie Marburg, wo wir gerade eines Besseren belehrt werden.

B: Was passiert gerade in Marburg?

US: Die Kommune Marburg in Deutschland hat vom VinziDorf erfahren und möchte das nachmachen. Das ist unser erster öffentlicher Auftrag, um so ein Dorf zu realisieren. Ein Dorf ist es ja deshalb, weil es um Menschen geht, die vom sozialen Miteinander ausgeschlossen waren. Im Dorf hat jeder sein kleines Haus und die Gemeinschaft vor der Nase, die man annehmen kann, aber nicht unbedingt muss. Bei den meisten Notschlafstellen gibt es Schlafsäle, wo man am Abend hinein und in der Früh wieder raus muss. Aber das halten nicht alle Menschen aus. Jene, die wirklich lange auf der Straße gelebt haben, für die ist das keine Alternative. Für die gibt es dieses Dorf mit einem Gemeinschaftshaus, wo man gemeinsam essen kann und wo es Duschen gibt. Die Gemeinschaft wird angeboten, aber eben nicht unbedingt vorausgesetzt. Es gibt keinen Zwang.

Wenn es eine Kritik an unseren Projekten gegeben hat, dann am ehesten, dass diese Zimmer winzig sind. Der Gedanke dahinter war besser ein permanenter, kleiner Wohnort, als gar nichts. Denn bei diesen Projekten heißt es oft „alles oder nichts”: wir müssen alles erfüllen und dann geht es nicht, weil dieses wird zu groß oder jenes zu teuer. Man sollte stattdessen besser herausfinden, was die Grundbedürfnisse der Menschen sind, für die man baut.

Wir wollen alle Bauherr:innen ernst nehmen, egal, welche soziale Stellung sie haben. Oft ist das größte Bedürfnis, eine Tür zu haben, die man verschließen kann ohne Angst haben zu müssen, bestohlen oder gar bedroht zu werden. Also dieser ganz kleine persönliche, intime Raum, den niemand betreten darf, den man wirklich für sich hat und der Sicherheit gibt. Und wenn diese Sicherheit nach ein paar Wochen wirklich greifbar geworden ist, dann kommen die Leute auch raus und fangen auch wieder an, Kontakte zu knüpfen. In dem Dorf in Wien zum Beispiel, das es jetzt seit 2018 gibt, gibt es schon richtige Gemeinschaften und die Leute schauen aufeinander. Dieses soziale nicht miteinander Können ist in ein Miteinander umgeschlagen. Das ist sehr schön zu beobachten. Genau das wollen und sollen die Marburger:innen auch haben.


Licht im Projekt statt Zwangsbeglückung

AH: Hillary Silver ist eine amerikanische Soziologin, die gesagt hat, es ist nicht das Dach über dem Kopf, sondern es sind die sozialen Strukturen, die uns tragen. Daran glauben wir. Und jetzt denken wir an marginalisierte Gruppen, Flüchtlinge, obdachlose Menschen, die werden immer mit Gruppenprojekten zwangsbeglückt, scheinbar dieser Not geschuldet. Diese Menschen müssen mit ihren schweren Biografien von der Flucht, vom Überleben auf der Straße, innerhalb dieser Gruppenprojekte sozusagen zwangskompatibel sein. Dass das nicht funktioniert, ist völlig klar, oder?

Aktuell ist zum Beispiel ein Projekt geplant in München für 830 Obdachlose in einem Gebäude mit 3 Trakten – und nennt sich Übernachtungsschutz. Die Kosten dafür liegen im zweistelligen Millionenbereich. Ich möchte da weder Security, Nutzer:in noch Betreuungspersonal sein. Also ich möchte da gar nicht sein, das ist doch eine Sackgasse, Dead End. Wenn du da hingehst, weißt du: Jetzt bist du wirklich am Sand.


Studierende sind ideale Kontaktstellen

Wir versuchen eigentlich immer, in den Projekten auch das Licht mit einzubauen, also die Perspektive, das Licht am Horizont. Wir definieren unser Wellbeing in der Mehrheitsgesellschaft einerseits über unsere sozialen Beziehungen, die laden unsere Akkus auf. Wir Menschen definieren uns aber auch über die Sinnhaftigkeit unseres Lebens. Uns interessiert viel mehr als nur das reine Wohnen bei den Projekten, deshalb werden sie immer hybrider. Das Hybride ist für uns eines der Lösungsmittel, beispielsweise in Sachen Belegung. Die Projekte sind nicht nur für obdachlose Menschen, sondern auch für Studierende. Die sind neugierig, experimentierfreudig, wollen ihren Horizont erweitern. Und als Junge:r kann man sich eine eigene Wohnung oft auch schlicht nicht leisten.

Studierende sind ideale Kontaktstellen. Dazu braucht es aber natürlich auch das richtige Raumprogramm. Das ist unsere große Kritik am Thema Wettbewerbe, wo man das bereits vorgegeben kriegt. Wir entwickeln das lieber gemeinsam mit den Nutzer:innen und Auftraggeber:innen. Das ist ein Riesenhebel, ob das Projekt gut wird oder nicht. Für die Zeit, in der ich an einem Platz bin, soll es keine Rolle spielen, wo ich herkomme, wo ich nachher hingehe, sondern nur, ob es bauliche Settings gibt, die es ermöglichen, miteinander eine gute Zeit zu haben. Und da spielt die Beschäftigung eine große Rolle, also das miteinander Tun.


Von Gruppen- und lokalen Größen

AH: Zum Schluss erwähnt werden soll aber auch noch das informelle Wohnen. Wir können so viel lernen und so viel profitieren von informellen Strukturen, die nicht aus der Architekturplanung kommen oder gar von Regierungskreisen vorgegeben werden, sondern die von alleine entstehen. Dinge, die ohne Reglementierung entstehen, sollte man sich viel mehr anschauen und in den Kommunen willkommen heißen.

US: Wir haben festgestellt, dass die richtige Gruppengröße von Leuten, die zusammenwohnen, etwa 30 Personen ist, also etwa eine alte Schulklasse. So wurden wir sozialisiert. Da finden wir uns zurecht. Man kann sich die Namen der anderen merken. Die Gruppe verträgt es aber auch, wenn man nur fünf von denen mag. Es gibt eine gewisse Art der Auswahlmöglichkeit, man kann Beziehungen aufbauen. Auch eine Gesellschaft verträgt Projekte viel eher, wenn sie in Kleingruppen über die ganze Stadt verteilt sind. Da kann auch die Nachbarschaft mitwirken, und wir sehen viele Synergien, auch wie in Mayerling zum Beispiel. Das war ein aufgelassenes Hotel mit einer Wäscherei. Im Nachbardorf gibt es ein Pflegeheim und wir dachten uns: für die kann man doch gleich mitwaschen. Es eröffnen sich so viele Möglichkeiten, wenn man mehr in lokalen Größen denkt. Wir wollen mit unseren Projekten immer auch etwas an die Nachbarschaft etwas zurückgeben. Wir wollen, dass es eine Verflechtung gibt zwischen dem Außen und Innen, ohne Abschottung oder Isolation.


Form follows resource

AH: „Obdachlosenprojekte” mag ja kein Mensch in der Nachbarschaft. Du kannst die schönste Architektur dafür planen, aber nicht bewilligt bekommen, wenn dir die Anrainer:innen Morddrohungen schicken. Also haben wir mit der Zeit Strategien entwickelt. Eine Gesellschaft lebt von Symbiose. Wenn eine Struktur zu sehr von Parasiten befallen ist, geht sie ein. Auch Architektur sollte symbiotisch gedacht werden, ohne den fixen Fokus auf ein Ergebnis, sondern auf die Entwicklung, das Prozessuale. Also eigentlich genau nicht so, wie wir es gelernt haben und wie es an vielen Hochschulen immer noch gelehrt wird, dass das schöne, wohlgestaltete Objekt (Stichwort Icons oder Landmarks), dann irgendwann fertig ist, ein Band durchgeschnitten wird und man freut sich, dass es fast so schön aussieht wie auf den Renderings. Das ist nicht mehr die Idee von Architektur.

Wir haben beim Entwerfen mit dem Prozessualen im Blick festgestellt, dass wir dadurch überhaupt so viele Potenziale entdecken. Deshalb lautet unser neues Credo „form follows resource”. Resource im Sinne von Graue Energie, klar, aber auch von Infrastruktur, Menschen, Nachbar:innen, Tiere, Pflanzen, also alles, was da ist. Dahingehend müssen wir Architekt:innen uns eigentlich zu Spezialist:innen entwickeln und die Wahrnehmung der nächsten Generationen schulen: Wo sind wir, und was gibt es hier?


Vom Flohmarkt zur Identifikation

AH: Wir haben einfach so wahnsinnig viel an Produkten und Dingen. Wir sind super rich kids und sollten mal schauen, wie weit wir mit dem kommen, was bereits vorhanden ist. Man entwickelt dann beispielsweise bei Projekten Formate wie einen Flohmarkt, wo man Menschen informiert, aber auch ihre Meinungen dazu abholt und plötzlich Ideen kriegt, wie man das Raumprogramm noch erweitern kann.

Anwohner:innen sind Local Experts, und wenn die merken, dass ihre Gedanken ins Projekt mit einfließen, dann haben wir das Thema Identifikation schon miterledigt. Dann wird plötzlich der Organismus erweitert und nicht irgendwie so ein Implantat eingefügt, das womöglich abgestoßen wird. Weiters versuchen wir, Jugendliche ins Projekt hinein zu wursteln, Schüler:innen, Lehrlinge, Student:innen, also vor allem junge Generationen, gerade auch in ganz arge Projekte, wie dem VinziDorf, wo es um handfeste Obdachlosigkeit geht.


Gestalter:innen lebendiger Prozesse

AH: Wenn wir mittels Architekturplanung erst mal jungen Menschen Anknüpfungspunkte an so ein Projekt eröffnet haben, und die mitmachen, dann denken sie ihr ganzes Leben lang anders über beispielsweise Obdachlosigkeit. Sie erkennen, dass das meiste Stigma ist, also Vorurteile. Es ist natürlich auch wahnsinnig mühsam, so zu arbeiten, und finanziell wahnsinnig unrentabel. Aber die Projekte werden dann gemeinsam entwickelt, diskutiert, gebaut, realisiert, und das heißt, wir sind nicht mehr Gestalter:innen toter Materie, sondern wir sind inzwischen Gestalter:innen lebendiger Prozesse geworden. Das ist super erfreulich. Dennoch müssen wir auch gerade wieder schauen, wo die nächsten anderen, also konventionellen, Projekte herkommen, von denen wir dann auch leben können.


Autonomie

B: Bräuchtet ihr ein bisschen mehr Autonomie? Was würde die Architekturarbeit leichter für euch machen und damit für die Gesellschaft?

US: Mehr Freiräume zu bekommen, von mir aus auch in einem Umfeld arbeiten, wo man einfach gewisse Dinge tun darf. Es gibt in Deutschland ja auch diesen Gebäudetyp E, E wie einfaches Bauen, und wir in Österreich sind da auch dran, auch wenn es sehr viele Fragezeichen rund um dieses Thema gibt. Das wäre zum Beispiel etwas, was wir uns genauer ansehen müssen.


Wettlauf gegen die Zeit

US: Am Anfang waren wir immer gezwungen, mit dem Bestand zu bauen, weil wir uns das Neue gar nicht leisten konnten. Und das, was wir uns früher aus sozialen Gründen nicht leisten konnten, ist jetzt auch Thema der Mehrheitsgesellschaft. Nur jetzt ist es aus einer globalen Not heraus ein Fokusthema, wie wir mit dem, was da ist, besser umgehen müssen; dass es statt einer Bauordnung eine Umbauordnung geben sollte und so weiter. Was bereits in Ansätzen angedacht ist, aber wo ich ein bisschen Angst habe, dass das alles viel zu lange dauert. Wir sind unheimlich träge und uns läuft einfach die Zeit weg.

Wir sind schon eher am Ende unserer Berufslaufbahn als am Anfang, und wir werden unsere Arbeit noch zu Ende bringen können. Aber ich mache mir wirklich große Sorgen um die Kinder und jungen Leute, die ganz am Anfang stehen. Wie soll das weitergehen, wenn wir jetzt nicht einen Zahn zulegen? Jeder sagt „na ja, in 15 Jahren soll man das gelöst haben”. Aber ich merke, dass wir schon seit 5 oder 10 Jahren drüber reden, und bis jetzt ist nichts wirklich gelöst. Und wenn es in diesem Tempo weitergeht, dann mache ich mir wirklich ganz große Sorgen. Deshalb muss ich wieder ein bisschen die Hoffnung ins Spiel bringen. Alex ist der Optimist bei uns, so wie du auch, Ramona. Du bist jung, du interessierst dich dafür und ich habe zum Glück das Gefühl, dass es immer mehr Gleichgesinnte gibt.


„Wir müssen den Hals voll genug haben, jetzt.”

AH: An der Fachhochschule in Kärnten habe ich das Gefühl, dass für junge Menschen all die Themen interessant sind, die man unter dem Stichwort Bauwende subsumieren könnte. Sie checken langsam, wenn wir so weitermachen und weiterhin den Konjunktiv verwenden – wir sollten, wir müssten –, dass das einfach zu wenig ist. Wir müssen auf den Imperativ umstellen und Druck machen, besonders auch von unten, sprich aus der Bevölkerung des Globalen Nordens und unserer Region. Wir müssen den Hals voll genug haben, jetzt. Ich finde es total arrogant, dass wir immer noch so weitermachen, nämlich gegenüber all jenen, die das nicht können, ja sogar: zum Glück nicht können, weil sich das ja gar nicht ausgehen kann, wenn alle so leben würden wie wir.

Unser Denken geht wie folgt: „Ach ja, da ist die Raumhöhe 10 Zentimeter zu niedrig, oder? Da ist die Dämmung nicht OK oder die barrierefreie Erschließung passt nicht, oder? Na dann schieben wir es weg, machen es neu.” Wir glauben ja, Architekt:innen sind so kreativ. Diese Kreativität müssen wir umlenken auf Fragen wie: Wie weit kommen wir mit den Dingen, die wir haben? Wie begegnen wir damit den neuen Herausforderungen, die wir als Architekt:innen lösen sollen? Mit dieser Kreativität müssen wir Potenziale identifizieren, um etwas, das störend ist oder nervt, so lange zu betrachten, bis daraus vielleicht sogar etwas Identitätsstiftendes für das ganze Projekt wird. Ulrike sagt dazu immer Geschichten weitererzählen.


Wie weit reicht meine Hirnschale?

AH: Wenn man durch Berlin geht und sich dort die Neubauten ansieht, kommt einem direkt das Schaudern. Die sind quasi nanobeschichtet. Die adressieren nicht die Nutzer:innen oder Stadtbewohner:innen. Die sind so artifiziell, so sind wir fast wieder bei künstlicher Intelligenz. Mir fehlt bei beidem der Konnex zum Menschlichen. Und da sehe ich im Gegenzug beim zirkularen Bauen das Bestreben, ob Bestand erhalten oder zumindest weiterverwendet wird, als eine Riesenchance, Architekturen zu entwickeln, wo Patina eine Rolle spielt, wo Spuren eine Rolle spielen, wo man einfach merkt, das ist jetzt nicht aus der Retorte oder Copy Paste mal 3000. Das Hoffnungsvolle ist, dass junge Menschen sich dafür auch interessieren.

Und wenn wir jetzt noch vom Konjunktiv zum Imperativ kommen, hilft uns das dabei enorm. Als Architekt:innen Teil einer Gruppe zu sein, die über die Umwelt nachdenkt, als Spezialist:innen für die gebaute Umwelt, das eröffnet ja viel mehr, das ist so viel spannender! Ich kann in dieser Hirnschale nur so weit denken, wie ich denken kann. Sobald ich jemanden einlade mitzudenken, wird es weiter und wenn ich mich dann auch noch mehr mit einer gegebenen Situation beschäftige, dann wird es noch weiter. Also wir sind ja beide Wolf Prix’ Schüler:innen. Die haben, um Serendipity, einen glücklichen Zufall, zu erzeugen, einen Plan oder eine Zeichnung auf den Kopierer gelegt und während des Kopiervorgangs bewegt. Dann schaute man, was dabei rauskam und manches davon hat man einfach in Architektur übersetzt. Dieses Einladen von Zufällen oder von dem, was ich nicht selber bin, mein eigenes Hirn zu verlassen, lässt einen so viele Dinge entdecken.


Rückkehr zur generalistischen Architekturarbeit

AH: Wir Architekt:innen glauben ja, wir sind wichtiger denn je. In unserer Arbeit sind aber noch mehr Menschen involviert, die dringend Einfluss auf die Architekturproduktion und -entwicklung haben müssen. Daher braucht es noch mehr Menschen, die dank einer entsprechenden Ausbildung schauen, dass all die baulichen Komponenten, die immer mehr werden, nachher in ein Ding eingebaut werden können, das hundert Jahre oder 500 Jahre Bestand hat. Das ist eine Riesenverantwortung. Man braucht dazu Menschen, die ausbildungsmäßig einen Überblick behalten. Das spricht wieder für diese Generalist:in, die ja eine Zeit lang tot gesagt wurde.

Niemand von uns glaubt, dass er oder sie besser ist als ein Zimmermann oder eine Schlosserin. Aber es braucht trotzdem jemanden, der oder die das Ganze im Blick behält und hoffentlich bleibt diese Arbeit den Architekt:innen vorbehalten. Hoffentlich werden wir nicht wegrationalisiert von wegen naja, das macht dann schon irgendein Baudeveloper, der schafft es schon. Das Solo-Genie, sozusagen der Architekt, der ist quasi tot. Wir sehen uns mehr als Vermittler:innen.

*siehe auch Baumeister 1/2014, Seite 60 bis 67

Die Fragen stellte Ramona Kraxner.

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